12.11.1998 | [index] |
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Madjiguène Cissé : Wir haben zur Zeit sechs Hungerstreiks in Frankreich, Limeil-Brevanne, in Le Havre, Bordeaux, Orléans, Perpignan und Avignon. Die Lage spitzt sich derzeit dramatisch zu, weil die Behörden, und ich meine im speziellen das Innenministerium, nicht verhandeln wollen, d.h. die streikenden " Sans-Papiers " haben fast alle Ablehnungsbriefe erhalten. Sie machen trotzdem weiter, und wir wissen nicht, wie das alles enden wird, und das ist wirklich sehr problematisch für uns.
Madjiguène Cissé : Betreffs des Hungerstreiks in Limeil-Brevanne im Département Val-de-Marne: der dortige Bürgermeister, der der sozialistischen Partei angehört, hat eine sehr mutige Position eingenommen, indem er die streikenden " SANS-PAPIERS " in seinem Rathaus beherbergt hat. Und er ist sogar noch weiter gegangen, indem er die Legalisierung aller " SANS-PAPIERS ", die einen Antrag gestellt haben, verlangt. Er hat deswegen eine Reihe von Problemen, da viele Sozialisten seine Position nicht verstehen und ihn heftig kritisieren, wie z.B. die Präsidentin der Föderation der sozialistischen Partei in diesem Département. Wir als " SANS-PAPIERS " sind natürlich glücklich über das Engagement dieses sozialistischen Bürgermeisters und hoffen, dass andere Bürgermeister seine Position in der Zukunft übernehmen werden.
Madjiguène Cissé : Ja, es wird viel über eine gewisse Spaltung in der Bewegung der " SANS-PAPIERS " gesprochen, aber meiner Meinung nach handelt es sich nicht um eine Spaltung innerhalb der Bewegung der " SANS-PAPIERS " sondern um eine Spaltung, die von aussen in unsere Bewegung getragen wurde. Seitdem die Linke wieder seit Juni 1997 an der Macht ist, und besonders seit November 1997, versuchen Teile der unterstützenden Organisationen, eine Kontrolle innerhalb der Bewegung der " SANS-PAPIERS " zu übernehmen. Es gibt die Plattform des Hilfskomitees und eine Plattform eines Teils der " SANS-PAPIERS ". Seitdem Lionel Jospin an der Macht ist, verlangt die Plattform des Hilfskomitees die Legalisierung aller " SANS-PAPIERS ", die einen Antrag gestellt haben. Wir als " SANS-PAPIERS " sind aber davon überzeugt, dass wir alle " SANS-PAPIERS " unterstützen müssen, auch diejenigen, die noch keinen Antrag gestellt haben. Weiterhin, im Gegensatz zur Plattform der Linken, kritisieren wir das Gesetz von Chevenement, welches letztes Jahr verabschiedet wurde. In diesem Gesetz finden wir dieselbe Logik von Verdächtigung und Repression wie in den Gesetzen von Debré und Pasqua und fordern deshalb die Abschaffung dieses Gesetzes. Es ist also von Spaltung die Rede, da es sehr tiefe Unterschiede zwischen den Forderungen der " SANS-PAPIERS " und den Forderungen einiger Organisationen gibt.
Madjiguène Cissé : Innerhalb der Bewegung gibt es keine Probleme. Die Probleme bestehen mit einem Teil der unterstützenden Bewegungen, d.h. mit einigen Parteien, wie z.B. der kommunistischen Partei, die ja jetzt mit an der Regierung ist, oder auch mit den Trotzkisten der 4. Internationale. Seit den gewonnenen Wahlen wollen sie von einer Autonomie der Bewegung der " SANS-PAPIERS " nichts mehr wissen. Die Plattform der " SANS-PAPIERS " erscheint ihnen zu radikal, weil wir die Gleichstellung aller " SANS-PAPIERS " und die Abschaffung des Gesetzes von Chevènement verlangen. Sie haben Angst, dass die französische Bevölkerung das nicht versteht.
Madjiguène Cissé : Seitdem die Linke an der Macht ist, sagen ihre Vertreter immer wieder, dass es unrealistisch ist, Papiere für alle zu verlangen und dass ein Teil der französischen Bevölkerung nicht bereit ist, das zu verstehen. Ich glaube, dass sind nicht die richtigen Argumente. In diesem Land wird seit mehr als drei Jahren über die Bewegung der " SANS-PAPIERS " geredet, und man sollte die Diskussion noch weiter verstärken. Man sollte alle Fragen offen darlegen, damit sie in der Bevölkerung diskutiert werden können. Es geht ja nicht nur um Aufenthaltsgenehmigungen, sondern auch um freien Verkehr für alle Menschen überall in der Welt. Es geht um eine neue Weltwirtschaftsordnung, um eine neue Beziehung zwischen Frankreich und seinen ehemaligen Kolonien, um das Verhältnis Nord-Süd, die Verschuldung der dritten Welt. Das alles ist mit dem Kampf der " SANS-PAPIERS " verbunden. Und ohne Diskussionen darüber werden wir keine Lösungen finden. Und solange wird es immer Menschen geben, die versuchen, in die reichen Länder zu kommen und dort zu bleiben. Und die reichen Länder, wie z.B. hier in Europa, werden immer versuchen müssen, diese Probleme zu lösen, und das geht nicht ohne eine Diskussion über grundlegende Fragen.
Madjiguène Cissé : Internet ist ein neues Kommunikationsmittel, und 15 Monate vor dem Beginn des dritten Jahrtausends sollte man nicht vergessen, dass man immer mit seiner Zeit leben sollte. Wir haben seit über zwei Jahren eine Internet-Adresse (http://bok.net/pajol/index.de.html), und viele Leute haben sich darüber Informationen über die Bewegung der " SANS-PAPIERS " geholt und haben mittels Internet über die " SANS-PAPIERS " diskutiert. Internet ist also ein sehr wichtiges Kommunikationsmittel für uns, und ich freue mich darauf, ebenfalls bald eine Internet-Adresse zu haben, um mit vielen Leuten in Kontakt treten zu können und Informationen auszutauschen.
Madjiguène Cissé : Es ist richtig, zur Zeit sind wesentlich weniger Frauen in der Bewegung aktiv. Am Anfang gab es ziemlich viele Frauen, und das war auch wesentlicher lustiger und interessanter, z.B. eine Demonstration mit Frauen ist interessanter als eine ohne. Man merkt das heute auch bei den Kirchenbesetzungen, bei denen es grösstenteils nur noch Männer gibt, die dann ziemlich traurig dasitzen und nicht wissen, was sie tun sollen. Ein Grossteil der Frauen ist bereits legalisiert worden; einige arbeiten, andere kümmern sich um die Familien. Das fehlt uns in der Bewegung. Ausserdem sind Abschiebungen von Frauen relativ selten, obwohl auch das passiert. In Deutschland dagegen ist das sehr oft der Fall. Dort werden ganze Familien oder alleinstehende Frauen mit Kindern abgeschoben. In Frankreich findet man das seltener, und es gibt im Vergleich zu Deutschland auch weniger Frauen, die aufgrund dessen, dass sie keine Papiere haben, im Gefängnis sitzen.
Madjiguène Cissé : Die " SANS-PAPIERS " sind kein spezifisch französisches sondern ein europäisches Problem. Europa schliesst seine Grenzen - während die innereuropäischen Grenzen fallen, werden die Grenzen nach aussen immer dichter. Die Lösungen können nicht national gefunden werden; wir sind gezwungen, Brücken zwischen den Ländern zu schlagen, Kontakte zu knüpfen, gemeinsam etwas zu organisieren. Das ist der einzige Weg, um etwas zu erreichen. In Frankreich gibt es eine autonome " SANS-PAPIERS " -Bewegung seit drei Jahren. In Deutschland fangen die " SANS-PAPIERS " gerade an, sich zu organisieren, indem sie z.B. im Sommer eine Karawane organisiert haben, die durch insgesamt 40 Städte gezogen ist, oder indem sie auch Kirchen besetzen. In Italien und Spanien gibt es bislang kleine Gruppen von " SANS-PAPIERS ". Aber die ganze Bewegung muss europaweit organisiert werden. Das ist natürlich sehr viel Arbeit, aber wir haben angefangen, Kontakte nach Deutschland zu knüpfen, und auch nach Luxemburg, Belgien, Spanien und sogar nach England. Diese Kontakte wollen wir weiter ausbauen.
Madjiguène Cissé : Diese neuen Vorschläge betreffen eine Art der Ko-entwicklung (" co-développement " auf französisch), d.h. die Regierung unterstützt Leute, die nach einer dreimonatigen Ausbildung in einem frei gewählten Bereich in ihre Heimatländer zurückkehren. Diese Leute würden nach der Ausbildung 4500,-Francs erhalten, und damit in ihrem Land und mit Hilfe der OMI, der Organisation für Internationale Migration, versuchen, ein eigenes Projekt zu realisieren. Die OMI würde alle Etappen des Projektes verfolgen und eine erfolgreiche Reintegration in die Gesellschaft bestätigen. Mit dieser Bestätigung könnte man dann ein Visum zur mehrmaligen Einreise nach Frankreich bekommen. Wir haben diese Vorschläge in der Bewegung der " SANS-PAPIERS " diskutiert, und sind zu dem Schluss gekommen, dass diese Vorschläge nicht sehr interessant für uns sind. Ein " SANS-PAPIERS ", der in Frankreich einen Mindestlohn von etwas über 5000,-Francs verdient, wird nicht akzeptieren, mit 4500,-Francs zurückzugehen. Ausserdem gibt es keine Garantie, dass das Projekt im Heimatland gelingen wird. Der Vorschlag der linken Regierung löst das Problem ausserdem nicht, weil es zur Zeit noch ca. 70 000 Menschen gibt, die noch nicht legalisiert worden sind, der Vorschlag der Reintegration betrifft aber nur 1000 bis 3000 Menschen im nächsten Jahr. Das sind sehr wenige im Vergleich zu 70 000. Was macht die Regierung mit denjenigen, die übrigbleiben? Abschieben ist wohl kaum eine Lösung und zurück in die Illegalität ebensowenig. So wird der Kampf der " SANS-PAPIERS " weitergehen, denn die einzig korrekte Lösung wäre, diesen Menschen gültige Papiere zu geben, und dann zu überlegen, was man in der Zukunft machen kann.