von Mogniss H. Abdallah, agence IM'média | [pajol] |
19. Dezember 1998 | français / deutsch |
AM 6. Dezember 1998 haben Madjiguène Cissé und die sans-papiers aus Frankreich in Berlin den Carl-von-Ossietzky-Preis erhalten, der ihnen von der LIGA, der deutschen Sektion der Internationalen Liga für Menschenrechte, übergeben wurde. Diese Veranstaltung fiel zusammen mit dem 50-jährigen Jubiläum der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen und war die Gelegenheit, die Verbindungen zwischen den sans-papiers aus Frankreich und aus Deutschland stärker zu knüpfen. Gleichzeitig stellte sich die Frage nach einer europäischen Bewegung der sans-papiers.
Die Flüchtlinge und MigrantInnen sind die großen Abwesenden im Regierungsprogramm der Rot-Grünen-Koalition, die nach den Wahlen vom September 1998 in Deutschland an die Regierung gekommen ist. Dieses Programm wirft kaum die Frage nach der Dauer der Abschiebehaft oder nach der Situation der Flüchtlinge mit Duldung, die im Asylverfahren abgelehnt wurden und auf deutschem Boden bis zu deren Ausreise ²geduldet² werden, auf. Im Gegensatz dazu hat man viel über das Vorhaben geschrieben, wonach der in Deutschland geborenen dritten Generation von MigrantInnen die Staatsbürgerschaft gekoppelt mit der doppelten Staatsbürgerschaft zu geben. Das Kommunalwahlrecht für Nicht-EU-BÜrgerInnen, das auch geplant war, ist einfach vom Programm verschwunden.
Otto Schily, der neue SPD-Bundesinnenminister - früher bei den Grünen und Verteidiger der Roten Armee Fraktion (RAF) - hat sich bewußt entschieden, den Schwerpunkt der Diskussion auf das Thema Null-Einwanderung zu legen. ²Die Grenze der Belastbarkeit Deutschlands durch die Zuwanderung ist überschritten², erklärte er Mitte November. Sein Vorgänger von der CDU, Manfred Kanther, hatte bereits erklärt: ²Das Boot ist übervoll. Noch mehr, und es würde sinken.² Und in Bayern wird der junge Mehmet, der junge ²Mehrfachtäter², abgeschoben.
Fanny Michaela Reisin, die Vorsitzende der LIGA, wurde eindeutig: Sie übernahm ohne Zurückhaltung die Losung ²Papiere für alle², weil ²der Zwang in der Illegalität zu leben, die eklatanteste Menschenrechtsverletzung² sei. Gewiß ist der Preis an die sans-papiers aus Frankreich verliehen worden, deren Bewegung einen Teil der deutschen Linke bis hin zur Mythosbildung fasziniert. Die Preisübergabe ist jedoch auch die Gelegenheit für ein öffentliches Auftreten der sans-papiers aus Deutschland gewesen, das durch die große Bühne im ²Haus der Kulturen der Welt² in Berlin gewissenhaft aufgewertet wurde.
Die meisten anwesenden Kameras filmten selbstverständlich nicht die Litanei der sans-papiers jeder Herkunft in Deutschland, die einer nach dem anderen zum Mikro pilgerten, bevor sie die Reihen der auf der Bühne sitzenden Menschen verstärkten.
Und jedoch: Ihre Entscheidung, mit offenem Gesicht endlich öffentlich zu erscheinen, allein und gleichzeitig innerhalb einer Gruppe, die sichtbar immer größer wird, unter einem Transparent ²Wir wollen das Bleiberecht², war das eigentlich nicht der richtige Höhepunkt der Veranstaltung?
Unter den ²Illegalen², die anfangen, die Bezeichnung ²Ohne Papiere² bzw. ²sans-papiers² auf Französisch für sich in Anspruch zu nehmen, gibt es noch keine Anführer mit einem Charisma, das man den Medien anbieten könnte.
Es gibt aber Männer und Frauen, die Zeugnis über ihren alltäglichen Leidensweg ablegen und dessen Ende sie wollen. Der Zynismus der deutschen Behörden wird durch die Überlebenden des Lübecker Brandanschlages auf ein Asylbewerberheim in Lübeck, der den Tod von Menschen 1996 verursacht hatte, entlarvt; sie sind heute von der Abschiebung bedroht und leben nach wie vor unter dem Verdacht, selber für das Drama verantwortlich zu sein. Die Zeugnisse auf der Bühne werden von der Pressedokumentation der LIGA gestützt. Darin werden ca. 15 Fälle dokumentiert, wie der Fall von Ali, einem abgelehnten Asylbewerber aus dem Libanon, und seiner elfjährigen Tochter Ohla, die in ihrer Schule Klassensprecherin ist. Oder der Fall von Paula, einem minderjährigen Mädchen aus Rumänien, das vergewaltigt wurde. Oder der Fall von Abu aus Jemen, einem ehemaligen Drogenabhängigen, der seine Therapie erfolgreich hinter sich gebracht hat und keinen administrativen Grund mehr hat zu bleiben. Oder noch der Fall von Habiba aus Syrien, die von ihrem jetzt bereits abgeschobenen Ehemann geschlagen wurde, hat ihre Scheidung endlich erreicht, wird wiederum von Abschiebung bedroht... Alle waren anwesend, ohne Aufenthaltsstatus, sie warten mit Duldung oder ohne.
Die Print- oder Funkmedien haben wiederum nur die Erklärungen der Vorsitzenden der LIGA oder von Heribert Prantl, dem anerkannten Journalisten der Süddeutschen Zeitung festgehalten. Was soll das! Prantl hält die Aktion der sans-papiers für eine der wichtigsten sozialen und politischen Bewegungen in Europa, die in der Lage sei, die Flamme des Kirchenasyls wieder zu beleben und die die gleiche Unterstützung wie Solidarnocs in Polen verdient!
Zum Schluß: Warum sollten wir diese Unterstützung und dieses Echo boykottieren, auch wenn sie von deutsch-deutschen Problemen geprägt sind? Sie stehen im Gegensatz zu der mehr oder weniger ausgesprochenen Ablehnung in verschiedenen humanistischen Kreisen, die keinen Zusammenhang zwischen den Aktionen der sans-papiers und den Menschenrechten sehen. Die Tageszeitung - Organ der Rot-Grünen-Koalition - hat bekannt gegeben, daß ein örtlicher Vertreter von amnesty international versucht hat, dem Prinzip der Verleihung des Carl-von-Ossietzky-Preises an die sans-papiers zu widersprechen. Während des Wochenendes vom 5./6. Dezember feierte außerdem amnesty international das 50-jährige Jubiläum der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in Frankfurt/Main und hat zwölf Kämpfer für die Menschenrechte geehrt, darunter den chinesischen, in den USA im Exil lebenden Dissidenten Wie Jingscheng oder den Türken Akin Birdal. Der Preis betrug 60.000 DM.
Auch wenn amnesty international das Thema der Menschenrechte unter einen ²klassischeren² Aspekt behandelt, fordert sie auch eine neue Einwanderungspolitik und die Ausdehnung des Asylrechts auf die Opfer der staatlichen Verfolgung hinaus. Und sie arbeitet ansonsten sehr eng mit der LIGA zusammen.
Die LIGA erweitert ohne Zweifel das Thema, indem sie seit 1962 jährlich den Carl-von-Ossietzky-Preis an Personen verleiht, die sich für die Menschenrechte einschließlich der sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und ökologischen Rechte sowie der Rechte auf Schutz der Person und Anerkennung der Bürgerrechte, engagieren. Darüber hinaus gibt der Bezug auf den Gründer der LIGA diesem Preis einen sehr feierlichen Charakter.
Carl von Ossietzky hat 1922 die LIGA gegründet und mit der französischen Liga für Menschenrechte sehr eng zusammengearbeitet. Er rief in einem ²Appell an die Demokraten² zu einer Versöhnung zwischen den beiden Ländern auf. Die LIGA wurde 1933 von den Nazis aufgelöst. Carl von Ossietzky war in einem KZ inhaftiert, als er den Nobelpreis 1936 erhielt. Er starb kurz danach 1938 an den Folgen seiner Haft.
Stört das Thema? Wir errinern uns daran, daß die SPD 1993 letztendlich der Grundgesetzänderung zugestimmt haben, die das Asylrecht drastisch eingeschränkt hatte. Oder ist nicht prosaischer die Auswirkung einer neuen Regierungskultur, welche das Potential der Bewegung an der Basis austrocknet? Es scheint auf jeden Fall, daß die Mitglieder, die als Einzelpersonen bei der LIGA in Arbeitsgruppen über die einzelnen Herkunftsländer (Mittlerer Osten, Iran, Westafrika, Eritrea...) engagiert sind, zum guten Ablauf des Ereignisses beigetragen haben, indem sie ihre Netzwerke aus Migranten- und deutschen Kreisen aktiviert haben.
Sie haben auf die Art zu einer Mischung verschiedener Kreise verholfen, die sich selten begegnen können, obwohl sie an den gleichen Themen arbeiten und manchmal die gleichen Unterschriftensammlung unterzeichnen. Diese Vielfalt wurde am Vorabend während der Diskussion nach der Ausstrahlung der deutschen Fassung der ²Ballade der sans-papiers² bestätigt. Dies ist eine notwendige Anmerkung, da die Frage nach der Übersetzung in verschiedene Sprachen ein unbeschreibliches Chaos verursacht hat. Madjiguène ist perfekt zweisprachig und genießt den Vorteil, die Aufmerksamkeit des deutschsprachigen Publikums um so besser zu bannen, so daß manche MigrantInnen aus Deutschland neidisch guckten, da sie mit dieser Sprache immer noch Probleme haben.
Im übervollen Raum des Vereins der Internationalen Solidarität, der in Neukölln von TürkInnen und KurdInnen getragen wird, tauschten MigrantInnen und Flüchtlinge, TamilInnen, NigerianerInnen, TogoerInnen, LateinamerikanerInnen, PalästinenserInnen und IranerInnen, Flugblätter und Adressen, während Kinder in allen Richtungen rannten. Die antirassistischen Organisationen und die Christen von Pro Asyl, die Studenten der FU Berlin und die PDS (ex-SED, kommunistische Partei in der DDR) hatten ihr Propagandamaterial ausgebreitet.
Unterschriftensammlungen gegen die kollektive Abschiebung von Nigerianerinnen per Charterflugzeug oder gegen das Asylbewerberleistungsgesetz wurden weitergereicht. Ebenso der Aufruf zu einer Demonstration in den nächsten Tagen.
Da die fertigen Lösungen fehlen, einigt man sich trotzdem auf die Diagnose. Die Einschränkung des Asylrechts und die Spirale der Deregulierung im Namen von Europa oder der Globalisierung sind die Ursachen für die Illegalisierung, die Prekarisierung und die Kriminalisierung. In Frankreich wie in Deutschland ist die soziale Sichtbarkeit des ²Illegalen² seit 1993 (Pasqua-Gesetze, Grundgesetzänderung in Deutschland etc..) offensichtlicher geworden. An der politischen Sichtbarkeit wollen jetzt die sans-papiers an beiden Ufern des Rheins arbeiten.
Dafür braucht man gemeinsame Bezüge. Die Losung ²Papiere für Alle² - ²des papiers pour tous² wurde Anfang Dezember 1998 in Berlin einstimmig angenommen.
Mehr als eine Losung wird es bald ein gleichnamiges Buch von Madjiguène geben, das aufgrund der Ablehnung eines Teils des französischen Linke zuerst in deutscher Sprache erscheinen wird.
Die Veröffentlichung ist für April 1999 vorgesehen (Verlag Libertäre Assoziation-Schwarze Risse-Rote Strasse).
Wetten wir schließlich, daß der deutsche Vorsitz in der Europäischen Union die ²ohne² aus dem ganzen Kontinent nach Köln im Juni 1999 ziehen lassen wird, mit der starken Forderung nach einer Gleichheit der Rechte für alle, deren in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formulierten Prinzipen durch die Nationalstaaten tagtäglich verletzt werden.
Mogniss H. Abdallah
Agence IM'média, Paris